Samstag, 25. Oktober 2008

Auf Entzug

Auf Entzug – dieser Begriff umschreibt meinen aktuellen Seinszustand und bedeutet eine Radikalkur des Bewusstseins von scheinbar selbstversaendlich zum Alltag dazugehoerenden Dingen.

Der Mensch ist ein Gewohnheitstier - und wie sehr er sich im Lauf der Jahre an jegliches gewoehnt, merkt er erst, wenn dies mit einem Mal ausser Reichweite ist – wenn er auf Entzug gesetzt wird.

Der Flieger, der mich nach Indien brachte, war so ungefaehr der letzte Luxus, den ich genossen habe. Seit dem: Entzug vom westlichen Komfort. Keine Waschmaschine, kein Staubsauger. Nur sporadisch Internetverbindung, der Strom im Haus (bzw. in der Stadt) kommt und geht, wie er lustig ist. Das Bad ist ungefaehr so gross wie ein deutsches Gaesteklo – aber immerhin mit einer europaeischen Toilette. Die ist Luxus. Den Luxus, anziehen zu koennen, was man will und rausgehen zu koennen, wenn man will, auch den missen wir hier. Als wie selbstverstaendlich wir Mittelklassedeutschen den Alltagsluxus hinnehmen, kommt uns hier ganz neu und extrem zu Bewusstsein.

In der Theorie haben wir natuerlich oefter darueber nachgedacht und disputiert und uns unter anderem durch den Schulunterricht eine sozialkritische Sichtweise angeeignet. Theorie ist aber nicht Praxis. Probieren geht ueber studieren, heisst es so schoen und dies drueckt eine tiefe Wahrheit aus. Beim philosophieren konnen wir uns den Mund fusselig reden und dennoch ersetzt es nie den Erfahrungswert. Wie ist es, wenn auf 100 Haushalte des 21. Jahrhunderts nur ein Kuehlschrank kommt? Wie ist es, wenn man eine Strasse gemeinsam mit zwei, drei Wasserschlangen ueberquert? Wie ist es, wenn Kaelber wegen des Regens sterben, weil sie keinen Unterschlupf finden? Wie ist es, wenn man befuerchten muss, dass der millionenste Mueckenstich, den man in seinem Leben bekommt, eine lebensbedrohliche Krankheit mit sich bringt? Wie ist es, morgens aufzuwachen und festzustellen, dass die Wohnung durch starke Regenguesse mal wieder unter Wassergesetzt und beschaedigt ist? Wie ist es, gleichzeitig zu wissen, dass im gleichen Viertel viele arme Menschen keinen Schlaf finden, weil es keinen trockenen Fleck mehr gibt, auf dem sie leben koennen, jetzt in der Regenzeit? Wer kann sich dann noch darueber aufregen, dass er keine Waschmaschine, keinen Staubsauger oder aehnliche technische Geraete zur Verfuegung hat?
Ich denke, es ist gut, wichtig und von unschaetzbarem Wert, sich dieser Konfrontation auszusetzen.

Hier in Indien lerne ich viele Dinge ganz neu zu schaetzen und beginne, tiefe Dankbarkeit fuer sie zu entwickeln. Gleichzeitig sehe ich, wie ueberflussig viele Artikel sind und wie beschaehmend es ist, zu glauben, sie seien unabdingbar. Horizonterweiterung? Nein. Nur Aufgabe der unerhoert dicken Mauer der Ignoranz, die wir Westler um uns herum aufbauen. Und gerade in diesem Moment faellt wieder der Strom aus… Man kann auch ohne leben!

(…bei Kerzenlicht zu schreiben ist ohnehin viel schoener  )

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