Donnerstag, 27. März 2008

Eine Lebensgeschichte

Mit freundlicher Genehmigung von unserer lieben Lisanne Schöner, der Autorin des wunderbaren Textes. Ein schönes und inspirierendes Leseerlebnis wünsche ich euch!

Eine Lebensgeschichte

Der Mann ging nervös auf und ab. Drei Schritte hin, drei zurück. Mehr waren es nicht von der feuchten Wand bis zu dem winzigen vergitterten Fenster, oben zwischen den dicken Steinquadern. Hin und her, hin und her. Nur um etwas zu tun, nur um nicht denken zu müssen. Aber es ist schwer nicht zu denken, wenn alles um einen totenstill ist, wenn das einzige Geräusch, das man hört ein Wassertropfen ist, der beständig von der Decke zum Boden fällt. Und das einzige was man sieht ein winziges Stückchen vergitterten Himmels ist.

Ja, vergittert war ihm der Himmel, aber auch das Leben, dachte er. Kein Ort, an dem er sicher war, keiner wo es noch Hoffnung für ihn gab. Immer hatte er sich auf seinen Verstand, seine Kraft verlassen; überall hatte er sich durchgeschlagen und herausgewunden. Viele hatten vor ihm gezittert, andere hatten ihn bewundert. Zimperlich war er nie gewesen. Nachdenken, Abwägen oder gar Rechenschaft ablegen war Sache der Schwachen und Feigen.

Was hatte seine Frau am letzten Tag gesagt. „Bitte beteilige Dich doch nicht an diesem Aufruhr, es führt zu nichts Gewalt mit Gewalt zu beantworten. Du lädst nur unnötig Schuld auf dich und machst dich und andere unglücklich.“
Wie recht sie gehabt hatte. Aber wann hatte er schon auf andere gehört? Wann hatte er jemals über Schuld nachgedacht? Was war denn schon Schuld?
Ein Wort der Pharisäer mit dem sie andere dazu bringen wollten, so zu leben, wie sie es für richtig hielten. Oder war es mehr?
War es vielleicht dieses bleischwere Gefühl, das sich ihm auf Geist und Glieder legte, das ihn zu erdrücken versuchte und ihm das Atmen schwer machte. Dieses Gefühl, das ihn zu Boden ziehen wollte, wo er unweigerlich in Tränen ausbrechen würde?

Nie in seinem Leben hatte er sich so einsam, so unglücklich und verlassen gefühlt. Und er hatte Angst. Angst die so tief saß, das er sie nicht abschütteln konnte. Und mit jedem Schritt, den er machte drückte sie ihm die Luft ein wenig mehr ab, denn jeder Schritt bedeutete Zeit. Und jeder weitere Schritt bedeutete noch mehr Zeit, seines plötzlich so kostbar gewordenen und einzigen Lebens.

Wie spät war es überhaupt? Inzwischen war es schon dunkel in seiner Zelle, das Fenster war kaum mehr vom Stein zu unterscheiden und ein kalter Hauch wehte herein. War Mitternacht schon vorüber? Ging es etwa schon auf den Morgen zu? Dann würden sie bald kommen, um ihn zu holen. Sie würden ihm Ketten anlegen und ihn hinausführen, hinauf nach Golgata. Einmal würde er noch die Sonne sehen und die Zedern riechen können. Einmal würde er noch sein geliebtes Jerusalem sehen können. Hier hatte er von klein auf gelebt. Schon als Kind war er durch die Gassen gerannt, hatte seine Streiche getrieben und die Leute geärgert. Danach hatte seine Mutter ihn immer tüchtig ausgeschimpft. Bis er sich schließlich schluchzend in ihren Schoß geworfen hatte und versprach sich zu bessern. Und dann war immer alles vergeben und vergessen gewesen, seine Mutter hatte ihn an sich gedrückt und ihm liebevoll über den Kopf gestrichen. Und er hatte sich wunderbar erleichtert und getröstet gefühlt.

Fast wünschte er sich seine Mutter käme in seine dunkle Zelle und er wäre wieder der kleine Junge von früher. Aber das waren Hirngespinste, denn selbst wenn sie hier wäre, könnte sie ihn doch nicht von seiner Last befreien, denn was er alles getan hatte konnte ihm kein Mensch verzeihen.
Die Zeit konnte man nicht zurückdrehen, Tote nicht wieder lebendig machen und Gesagt oder Gedachtes nicht wieder zurücknehmen. Deshalb würde er morgen sterben und genau betrachtet, empfand er dies sogar als gerechtfertigt.

Und trotzdem zitterte er am ganzen Körper und wünschte sich von Herzen noch einmal eine Chance zu bekommen für ein neues Leben. Die Chance sich zu entschuldigen, bei seiner Frau, seiner Familie und bei vielen anderen. Eine Chance es besser zu machen als bisher.
Aber es war aussichtslos. Morgen würde er dort oben am Kreuz hängen und Schmerzen haben und fühlen, wie das Leben ihn verließ. Und die Menschen würden ihn anstarren.
Einige würden ihn verachten und sagen „Seht, dort hängt er, dieser Straßenräuber und Mörder. Recht geschieht es ihm!“ Und er würde sich schämen, weil er wüsste, dass sich Recht haben. Andere würden um ihn weinen und er würde auch weinen, weil er wüsste, dass er sie verlassen musste. So vieles würde ungesagt bleiben.
Bei diesen Gedanken unterbrach er seinen Gang durch die Zelle und ließ sich auf den feuchten Heuhaufen in der Ecke fallen. Dort weinte er sich in den Schlaf.

Plötzlich schreckt er hoch und ist sofort hellwach. Ketten klirren und Schritte hallen. Schritte, wie sie Soldaten machen. Fest und gleichmäßig nähern sie sich seiner Tür. Sie kommen, um ihn zu holen, um ihn ans Kreuz zu schlagen. Er fühlt sich wie ein Tier in der Falle. Ohne Verstand, nur von Panik durchdrungen, presst er mit aller Kraft die Hände auf die Ohren. Aber er hört sie doch, die Schritte und die rauhen Stimmen, die immer näher kommen. Näher und näher, bis vor seine Zelle. Dann rasselt die Tür seiner Zelle und er hört auch, wie die Tür der Nebenzelle geöffnet wird. Rufe, Ketten, plötzlich geht alles ganz schnell. Wieder hallen Schritte, entfernen sich, werden leiser. Stille.
Und er, er sitzt noch immer in seiner Zelle. Kein Arm reißt ihn nach oben, keine Stimme schreit ihn an. Langsam öffnet er die Augen, löst sich aus seiner Starre. Was ist los? Haben sie ihn vergessen oder kommt er später dran?
Nachdem er noch eine Weile angestrengt gehorcht hat, getraut er sich endlich aufzustehen. Langsam geht er zur Tür und legt sein Ohr dagegen…Nichts. Er presst es fester gegen das Holz, da schwingt die Tür plötzlich auf. Er ist so verwirrt, dass er sich kaum rühren kann. Wieso ist die Tür offen? Was ist los? Haben sie eine Wache vor seiner Tür postiert?
Aber als er vorsichtig hinaus lugt, sieht er, dass der Gang völlig leer ist. Fassungslos taumelt er hinaus, bis er schließlich im hellen Sonnenlicht steht. Geblendet kneift er die Augen zusammen. Er versteht überhaupt nichts mehr. Kann es wirklich sein, dass er frei ist? Bestimmt ist es nur ein Traum oder aber die Soldaten stürzen jeden Augenblick auf ihn ein, um ihn wieder festzunehmen. Sicherlich wäre es jetzt das Schlauste die Beine in die Hand zu nehmen und auf und davon zu laufen. Aber er kann nicht, er ist zu durcheinander. Verwirrt irrt er durch die Straßen, gerät plötzlich in eine große, hektische Menschenmenge und wird mir ihr fortgetrieben, ohne richtig zu begreifen, wie ihm geschieht.

Sein Gehirn arbeitet nur langsam. Aber plötzlich hört er seinen Namen. Schon denkt er entdeckt worden zu sein und will fliehen, aber die zwei Männer neben ihm reden gar nicht mit ihm, sondern über ihn. Und was sie sagen ist sehr seltsam.
Sie behaupten tatsächlich, dass ein anderer an seiner Stelle gekreuzigt wurde und dass er, Barabbas, deshalb freigelassen und am Leben bleiben dürfe. Wie seltsam. Und weiterhin sagen sie, dass es ganz furchtbar traurig wäre, denn dieser andere Mann, dieser Jesus, sei doch völlig schuldlos gewesen und überhaupt der reinste und gütigste Mensch, den sie jemals gesehen hätten.

War denn die ganze Welt völlig verrückt geworden in der kurzen Zeit, in der er im Gefängnis gesessen hatte? Warum wurde jetzt ein schuldloser Mann gekreuzigt und er, Barabbas, der es tatsächlich verdient hatte, wurde freigelassen. Konnte das wahr sein?
Er muss sich selbst von der Wahrheit überzeugen, muss diesen Mann, der angeblich an seiner Stelle gestorben war, mit eigenen Augen sehen.
So folgt er der Menge den staubigen Weg nach Golgata hinauf, den Blick angespannt nach vorn gerichtet. Und dann endlich sieht er die Silhouetten der Kreuze in den Himmel ragen. Ihn schaudert als er sie erblickt und er reibt sich unwillkürlich die Handflächen. Er muss sich zwingen näher heranzugehen, den Ort zu betreten, an dem er jetzt eigentlich am Kreuz hängen müsste.
Ängstlich und doch von innerer Spannung getrieben, schiebt er sich durch die Menschen. Vorbei an den lauthals Spottenden und vorbei an den leise Weinenden, bis er ihn endlich sehen kann, den Mann am Kreuz. Über ihm hängt eine Inschrift. „Jesus von Nazareth“ heißt es da, „König der Juden“.
Es ist also wahr! Es ist tatsächlich ein anderer an seiner Stelle gestorben!

Einen Augenblick steht er wie betäubt. Doch dann begreift er endlich: Er ist frei! Er darf leben! Er muss nicht sterben, nicht zum Nichts werden. Er hat tatsächlich die Chance für ein neues Leben erhalten, durch diesen Mann am Kreuz.
Und Barabbas ist diesem Jesus, über den er unbedingt mehr erfahren will, von Herzen dankbar. Und die Freude fließt wie Wellen durch seinen Körper und schwemmt die ganze Angst und Kälte mit sich fort, bis er sich ganz leicht und warm und glücklich fühlt.
Nichts lähmt mehr seine Bewegungen und seinen Geist, als er mit langen, frohen Sprüngen den Berg hinab läuft, um seiner Familie von dem Wunderbaren zu berichten.


geschrieben von Lisanne Schöner
(inspiriert durch eine Predigt von Theo Lehmann)

1 Kommentar:

Annijan hat gesagt…

Puh, ich glaube, das war der längste Post bisher ;) und ich hoffe, ihr könnt ihn genießen, dank Lisanne. Vielen lieben Dank, Lisanne!